Ein Interview mit Alice Miller an Katharina Micada

Ein Interview mit Alice Miller an Katharina Micada

8 Oktober 2009

1. Wie definieren Sie den Begriff „Kindesmisshandlung“?
1. Ich spreche von Kindesmisshandlung auch da, wo das Kind nicht respektiert, erniedrigt, verwirrt, betrogen und sexuell missbraucht wird. In allen diesen Fällen wird mir übrigens kaum widersprochen. Hingegen gelingt es mir oft nicht, Menschen zu informieren, dass das Schlagen der Kinder eine folgenschwere Misshandlung ist, weil dies seit Jahrtausenden praktiziert wird und als Erziehung zum Besten des Kindes bezeichnet wird. Fast alle heute lebenden Eltern wurden als Kinder geschlagen und mussten leider sehr früh von ihren Eltern lernen, dass diese Praxis als harmlos und richtig anzusehen ist. Dieses falsche „Wissen“ ist also in ihrem Gehirn gespeichert und bei vielen kaum zu entfernen. Das Gegenteil zu begreifen, würde bedeuten, ihre Eltern in Frage zu stellen, und das macht den meisten Menschen Angst. Sie erwarten Strafen, gerade WEIL sie als Kinder für die Wahrheit mit Schlägen bestraft wurden.

2. Wie sehen Sie die Rolle der Religionen/Kirchen im Bezug auf die Kindesmisshandlung?
2. Ich sehe in allen mir bekannten Religionen die Forderung, die Eltern und Ahnen in hohen Ehren zu halten, auch wenn diese noch so brutal mit dem Kinde umgegangen sind. Fast alle Menschen halten sich daran, auch wenn sie mit ihrer Gesundheit dafür bezahlen müssen, weil der Körper die Moral nicht versteht. Er kann nicht lügen, er hat die Erinnerung an die erlittenen Qualen gespeichert und drängt uns dazu, seine Wahrheit zu respektieren. Ohne uns zu belügen, können wir nämlich nicht Menschen wirklich lieben und ehren, die uns viele Jahre lang gequält haben.

3. Welche Erfahrungen haben Sie mit Vertretern der Kirche im Bezug auf diese Thematik gemacht?
3. Wie Sie wissen, habe ich etliche Briefe an die beiden Päpste und auch an manche Kardinale, unter anderem an Kardinal Lustiger, geschrieben, doch entweder keine oder ausweichende Antworten erhalten. Ich bat um das Informieren junger Eltern, dass das Schlagen kleiner Kinder gefährlich sei, weil es bereits wissenschaftlich erwiesen sei, dass es das Gehirn schädigt. NIEMAND zeigte an dieser Information das geringste Interesse oder die Spur der Barmherzigkeit für die Abermillionen von geschlagenen kleinen Kindern. Mir war es, als hätte ich ein Rezept für ein komisches, exzentrisches Gericht empfehlen wollen. Die Einzelheiten dieser Korrespondenzen beschreibe ich in meinem Buch „Ewas Erwachen“

4. Wie wirkt sich die Misshandlung von Kindern auf die Gesellschaft aus?
4. Die Kinder von heute sind die Bürger von morgen. Sie durften sich gegen die Angriffe ihrer Eltern nicht wehren, waren hilflos, mussten ihren Zorn tief unterdrücken, um weitere Strafen zu vermeiden, aber sobald sie erwachsen werden, meldet sich dieser Zorn und richtet sich vor allem gegen die eigenen Kinder, aber auch gegen andere Menschen, die man straflos als Sündenböcke benutzen kann. An hohen Positionen angelangt, kann man ganze Völker dafür benutzen, um den in der Kindheit aufgestauten Zorn an Millionen abzureagieren. In meinem Buch „Abbruch der Schweigemauer“ habe ich am Beispiel von Ceausescu mit Hilfe von vielen Details aufgezeigt, wie dies in Rumänien unter seiner Herrschaft funktionierte. Sehr viele Menschen reagieren diesen unterdrückten Zorn nicht an anderen ab, sondern bestrafen sich selbst für das, was ihnen angetan wurde, wie sie es in der Kindheit gelernt haben und wie es ihre Religion verlangt. Sie werden krank, abhängig von Drogen oder Medikamenten und leiden an Depressionen. Sie nehmen das alles in kauf, um ja niemals ihre Eltern anzuklagen.

5. Eine amerikanische Studie hat nun nachgewiesen, dass geschlagene Kinder einen niedrigeren Intelligenzquotienten aufweisen. Ebenso hat die neuere Hirnforschung nachgewiesen, dass durch Gewalteinwirkung in den ersten drei Lebensjahren die Gehirnareale, die für Empathie zuständig sind, geschädigt werden. Sie schreiben schon seit 30 Jahren in Ihren Büchern, dass das Schlagen von Kindern – entgegen der gesellschaftlichen Meinung, dass „ein Klaps noch niemandem geschadet habe“ – extrem schädlich ist. Wie kamen Sie schon damals zu dieser Erkenntnis?
5. Ich habe 20 Jahre lang als Psychoanalytikerin ohne Freud’sche Scheuklappen meinen Patienten zugehört und habe mit Verblüffung feststellen müssen, dass sie ALLE misshandelte Kinder gewesen waren, aber diese Tatsache leugneten und ihre Eltern vor jedem Vorwurf in Schutz nahmen. Dieser Mechanismus hat mich damals sehr beschäftigt, ich las für meine weiteren Forschungen viele Lebensläufe berühmter Menschen und fand fast ohne Ausnahme überall das gleiche Muster: Die vollständige Verleugnung des eigenen in der Kindheit erfahrenen schweren Leidens, sowohl bei Massenmördern, Diktatoren, als auch bei Künstlern, Schriftstellern und Philosophen. Das zeigte ich später in meinen Büchern „Der gemiedene Schlüssel“ und „Die Revolte des Körpers.“

6. In Ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ (Suhrkamp 1980) haben Sie die Gräueltaten von Adolf Hitler in Bezug auf seine Kindheit untersucht. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?
6. An Hitlers Biographie habe ich wohl zum ersten Mal die unheimliche Gefährlichkeit der Verleugnung einer extrem grausamen Kindheit entdeckt. Das lässt sich nicht so kurz erklären, man muss die Beweisführung schon im Buch nachlesen.

7. Sie haben auch die Werke berühmter Schriftsteller wie Schiller, Nietzsche, Proust, Rimbaud, Kafka u.a. zu deren Kindheitserlebnissen in Beziehung gesetzt und festgestellt, dass die Literatur eine verschlüsselte Darstellung der verdrängten Kindheitsdramen darstellte. Das ist eine neue und ungewohnte Sicht auf Kunst. Sehen Sie diese Zusammenhänge auch bei anderen Künstlern und Kunstformen?
7. Ja, ich sehe sie in allen mir bisher zugänglichen Biographien. Weil es ganz logisch ist: Kinder lernen sehr früh alles, was die Eltern ihnen vormachen. Wenn sie also Gewalt erleben, lernen sie diese. Da es ihnen verboten ist, das Gelernte zu zeigen, mögen sie zunächst als besonders brave Kinder mit Gehorsam brillieren, wie der Auschwitzkommandant Rudolf Höss es selber bezeugt. Erst später zeigen sie die Brutalität, die sie bei ihren Eltern gelernt haben. Künstler zeigen meistens unbewusst das einst Erfahrene und Verdrängte verschlüsselt in ihrer Kunst. Dies scheint leider noch ein verbotenes Wissen zu sein, denn bisher hat niemand noch meine Forschungen aufgenommen. Bei den Amokläufern beteuern ALLE unisono, ohne zu zögern, dass sie die Motive der Täter ABSOLUT nicht verstehen. Deren Kindheit wird in der Presse kaum jemals erwähnt. Die Eltern werden in allen Fällen geschont. Wie sollen denn Leser verstehen, wie Gewalt gelernt wird, wenn niemand ihnen hilft?

8. Sie sind auch selbst Malerin und haben in Ihren Bildern, die in Ihrem Buch „Bilder meines Lebens“ (Suhrkamp 2006) sowie auf Ihrer Internetseite veröffentlicht sind, Erlebnisse Ihrer Kindheit verarbeitet. Wie ging die Kunstwelt mit dieser unverschlüsselten Form von Kindheitsbewältigung um?
8. Niemand ist bisher darauf eingegangen. Man lobte nur meine künstlerische Leistung. Als gäbe es eine Verschwörung, dass man über die Kindheit nicht sprechen darf. Dahinter vermute ich die Angst des Kindes, die in jedem von uns lebt, die Angst vor der Strafe der Eltern, wenn wir uns erlauben würden, deren Taten in Frage zu stellen.

9. Erwachsenen, die als Kinder misshandelt wurden, wird meist geraten, ihren Misshandlern zu vergeben. Die Religionen lehren das, sowie die meisten psychotherapeutischen Ansätze. Diesem Ansatz widersprechen Sie in Ihren Büchern. Warum?
9. Wie ich schon sagte: Der Körper versteht nichts von Religion und Moral. Wenn wir seine Erfahrungen der Grausamkeiten ignorieren, bezahlen wir unseren Selbstverrat mit Krankheiten oder lassen unsere Kinder ihn bezahlen, oder tun beides. Das Vergeben heilt nicht die Wunden, diese können nur durch das Zulassen der schmerzhaften Wahrheit ausgeheilt werden, nicht aber durch den Selbstbetrug. Um zu heilen, müssen die Wunden aufgedeckt werden und nicht verborgen bleiben. Manche Priester gebrauchen fremde Kinder für ihre sexuellen Wünsche, WEIL sie es niemals wahrhaben wollen, dass auch sie in der Kindheit so missbraucht wurden. Sie vergeben jeden Morgen global ihren Sündigern und wissen nicht, dass sie vom Zwang getrieben werden, das einst Erfahrene zu wiederholen und zu verleugnen. Würden sie sich mit der Geschichte der eigenen Kindheit konfrontieren und in einer aufdeckenden Therapie mit Zorn auf das ihnen Zugefügte protestieren, würden sie nicht zwanghaft das Leben ihrer Ministranten gefährden. Dieses Konzept der Therapie beschreibe ich in meinen beiden letzten Büchern, vor allem in „Dein gerettetes Leben“.

10. Seit einigen Jahren gibt es angeblich eine neu entdeckte Krankheit, das sog. „False-memory-syndrome“, zu deutsch „falsche Erinnerungen“ oder „Pseudoerinnerungen“. Halten Sie es für möglich, dass sich jemand einbildet, als Kind misshandelt worden zu sein?
10. Nein, weil unser Organismus eher die Schmerzen flieht und sie niemals erfindet. Sollten wir mal eine Geschichte erfinden, dann wird sie IMMER harmloser sein als die bittere und verdrängte Realität. Bei der False Memory Stiftung handelt es sich um eine reine Interessengemeinschaft von vermögenden Eltern, die sich in den 80er Jahren in den USA gebildet hat und Therapeuten gerichtlich verfolgte, als ihre erwachsenen Kinder den einst erlittenen sexuellen Missbrauch durch die eigenen Eltern in den Therapien erinnern konnten. Leider sind viele Therapeuten durch diese Prozesse eingeschüchtert worden, und das mag dazu beigetragen haben, dass heute die Realität der Kindheit in den meisten angebotenen Therapien kaum angeschaut wird.

11. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass dieses Krankheitsbild keineswegs wissenschaftlich überprüft worden ist. Warum erfährt es dennoch so große Verbreitung?
11. Genau deshalb, weil es sich eben um die Verleugnung der Wahrheit handelt. Dafür hat man immer dankbare Abnehmer. Die Tätigkeit der Stiftung wird jetzt auch in Deutschland und Frankreich bekannt und begrüßt. Das erinnert an die Zeit, als Sigmund Freud seine Entdeckung der sexuellen Misshandlungen der Kinder begraben und seinen Schülern den Oedipuskomplex angeboten hat, um seinen Vater „der vielleicht auch zu den Perversen gehörte“ (zitiert nach Freud, in meinem Buch „Du sollst nicht merken“), , nicht fürchten zu müssen.

12. Ihre Bücher haben hohe Auflagen und wurden in 30 Sprachen übersetzt. Warum setzen sich Ihre Erkenntnisse trotzdem so langsam durch?
12. Weil ich nichts anzubieten habe, als den Rat, sich die eigene Kindheit anzuschauen, und jeder tut lieber alles andere als dies. Aber Menschen, die den Mut haben, dies zu tun, und sich nicht durch Eltern schonende Theorien aller Art verwirren lassen, entdecken tatsächlich Goldminen in ihren Geschichten, die bisher verborgenen Schlüssel zum Verständnis ihres ganzen Lebens. Dank der Entdeckung ihrer Wahrheit und dem Erlebnis der emotionalen Reaktion darauf verlieren sie die Symptome wie Depressionen und Essstörungen. Natürlich bedeutet das oft eine sehr schmerzhafte Arbeit, die sich aber lohnt.

13. Welche gesellschaftlichen Veränderungen sind notwendig, damit die Weitergabe der Gewalt von Generation zu Generation beendet wird?
13. Vor allen Dingen die Verbreitung des Wissens über die Dynamik der Gewalt und die Aufklärung der Massen über die Art, wie sie die Tendenz zur Gewalt in ihren Kindern produzieren. Mit der Aufklärung der Päpste habe ich erhofft, ein AHA Erlebnis und den Wunsch, Kinder zu beschützen, zu bewirken. Ein einziger Satz aus dem Vatikan hätte die jungen Eltern aufhorchen lassen. Doch nichts dergleichen geschah. Indessen bewirkt das Schlagen der Kinder enorm viel Unheil, ein striktes Verbot dagegen sollte endlich das Bewusstsein der Massen wecken, dass jedes Kind von seinen Eltern respektiert werden MÜSSE und dass es das Recht auf den Schutz des Staates hat, um später keine Kriege organisieren zu wollen. Denn das geschlagene Kind verliert den natürlichen Kompass und agiert später höchst irrational, wie wir es heute bei Diktatoren beobachten können.

14. Haben wir uns nicht diesem Ziel genähert in der letzten Zeit?
14. Leider nicht. Noch 20 Staaten der USA erlauben körperliche Strafen in den Schulen. Das steht im scharfen Gegensatz zur humanen Konstitution der Vereinigten Staaten, die JEDEM Bürger Sicherheit und Schutz garantiert. Dass es trotzdem erlaubt ist, Kinder in den Schulen zu schlagen, stellen nur sehr Wenige in Frage. Weshalb stehen die Kinder nicht unter dem gleichen Schutz wie andere Bürger? Zumal die an ihnen verübten Verletzungen Schäden im Gehirn bewirken, während der verletzte Erwachsene bereits über ein fertig ausgebildetes Gehirn verfügt und somit weniger Schaden nimmt als das Kind? Die Reflexion über diese Fragen steht uns noch bevor.