Offener Brief an Studenten aller Nationen
März 2001
Liebe Freunde,
Mit diesem Brief möchte ich eine Information an Sie weiterleiten, die manche von Ihnen vielleicht schon haben, aber die den meisten noch fremd sein dürfte. Es geht darum, dass jede Form von körperlicher Strafe (Klapse, Ohrfeigen, Schläge, Prügel) eine Demütigung enthält, die sich später als eine große Gefahr für die Zukunft der Kinder und für die ganze Gesellschaft erweist.
Die Meinung, man könne, ohne Schaden damit anzurichten, ein schwächeres Wesen demütigen und etwas Gutes dabei erreichen, wurde seit Tausenden von Jahren an die nächste Generation weitervermittelt, obwohl sie den Fakten krass widerspricht.
Jedes Kind lernt durch Nachahmung. Je früher es die Sprache der Gewalt lernt, umso nachhaltiger wirkt sie. Schläge erzeugen Angst, und im Zustand der Angst ist ein Kind unfähig, sich positive Botschaften anzueignen. Daher wird das negative Beispiel eine viel stärkere Wirkung haben, als alle gutgemeinten Worte über Moral, die die Eltern gebrauchen. Die unausgesprochene Botschaft, dass man den Schwächeren misshandeln darf, sobald man dies Erziehung nennt, wird vom kindlichen Gehirn gespeichert und bleibt manchmal ein Leben lang wirksam.
Dieser Mechanismus erklärt die verblüffende Tatsache, dass auch intelligente und gebildete Menschen behaupten können, es sei nötig und richtig, Kinder zu schlagen. Weil sie diese Botschaft sehr früh erhalten haben, können sie sich nur schwer von ihr befreien. Als Kinder haben sie den Schmerz der Demütigung nicht bewusst erleben können und als Erwachsene meinen sie, dass ein Kind nicht leidet. Ihre Sensibilität für das Leiden der Kinder ist daher eingefroren. Das führt zur emotionalen Blindheit: Eltern schlagen ihr Kind und sehen die Angst in seinen Augen nicht, sie sind gegen diese Erkenntnis sozusagen „immun“.
Seit vierzig Jahren versuche ich, Menschen von dieser Blindheit zu befreien, vor allem von ihrer Tendenz, die einst erlittenen Misshandlungen an ihrem Kind zu wiederholen. Ich habe Forschungen über die Kindheit betrieben und mittels meiner Bücher Menschen darüber informiert, dass Kinder unschuldig auf die Welt kommen, dass sie Liebe brauchen, Pflege und Schutz, aber auf keinen Fall Gewalt, um empathische Erwachsene zu werden. Wenn Kinder nur Grausamkeit erfahren, ohne dass eine Person sie in Schutz nimmt, glorifizieren sie Grausamkeit und wenden sie später an. Das lässt sich an den Biographien von Hitler, Stalin, Mao und Ceaucescu nachweisen, und ich habe diese Nachweise in meinen Büchern erbracht. Alle Tyrannen waren als Kinder erbarmungslos geschlagen worden, sie haben alle, ausnahmslos, ihre Schmerzen verleugnet und fügten sie später anderen zu, bekanntlich ganzen Völkern.
Meine Bücher haben viele Leser erreicht, doch diese Menschen bilden eine winzige Minderheit der Weltbevölkerung. Die Mehrheit weiß von dieser Information noch nichts, und ich bin jedem dankbar, der mir hilft, sie zu verbreiten, damit sich die Situation rasch ändern kann. Das scheint mir durchaus realistisch, denn viele alte „Gewohnheiten“ wurden erst vor kurzem dank besserer Informationen aufgegeben. Heute ist es nicht mehr erlaubt, Sklaven zu halten, Gefangene zu züchtigen, die eigene Frau zu schlagen, für all dies sind Strafen vorgesehen. Aber ein Kind kann immer noch straflos geschlagen werden, sogar ein Baby, wenn dies als Erziehung ausgegeben wird.
Im Zeitalter des Internets dürfte es nicht unmöglich sein, die Information zu verbreiten, dass das Demütigen der Kinder auf die ganze Gesellschaft zurückschlägt. Es wäre durchaus denkbar, dass die kommende Generation von Erwachsenen diesen Zusammenhang schneller begreift als die vorhergehende, dass sie die Destruktivität und Ignoranz der alten erzieherischen Tradition durchschaut und sich für eine neue Tradition entschließt, die auf Wissen und Empathie gegründet sein wird.
Alice Miller